Stumme Rache von Stefan König

Stumme Rache von Stefan König - Tobs Thanners zweiter Fall (Karwendel-Wetterstein-Krimi) - (c) Rother Bergverlag

 

 

Tobs Thanners zweiter Fall (Karwendel-Wetterstein-Krimi)

Tobs Thanner, sympathischer, aber bisher wenig erfolgreicher Privatdetektiv, ermittelt wieder.
Ein Kletterpartner ist bei einer schwierigen Tour auf mysteriöse Weise in den Tod gestürzt. Seine Angehörigen glauben, dass es sich nicht um einen Unfall handelt und bitten Tobs, der Sache nachzugehen.

Während Tobs bei seinen Ermittlungen auf ein tragisches Geflecht von Liebe, Verrat und Eifersucht stößt, ereignet sich noch mehr Schreckliches, das ihn ganz persönlich betrifft: Der Hüttenwirt Jakob Brunner macht sich auf, um Rache zu nehmen an den Vergewaltigern seiner Tochter.

Ein Horrortrip für Jäger und Gejagte. Und Thanner wird einmal mehr mit den Abgründen der menschlichen Seele konfrontiert.

Rother Bergkrimi
1. Auflage 2014
244 Seiten Format 13,5 x 20,5 cm
kartoniert
EAN 9783763370658

ISBN 978-3-7633-7065-8
12,90 Euro [D] • 13,30 Euro [A] • 16,90 SFr
Alle Preisangaben inkl. ges. MwSt.

Leseprobe

Tobs Thanner stand am Einstieg zu einer langen Tour: achthundert Meter Wandhöhe, an den Schlüsselstellen fünfter bis sechster Schwierigkeitsgrad. Er war allein. Im Kletterrucksack hatte er nichts weiter als ein Seil (nur für den Fall, dass er umkehren musste), eine Trinkflasche, vier Müsliriegel und das abgeschaltete Handy.

Er hatte sich den Klettergurt angelegt und zwei Schlingen und zwei Karabiner daran befestigt. Wahrscheinlich würde er das nicht brauchen, aber die Erfahrung im Solo-Klettern hatte ihn gelehrt, dass es von Vorteil war, sich zum Ausruhen an einem Haken in der Wand selbst sichern zu können. Den Helm hatte er schon auf dem Kopf. Mit dem Rücken an den Fels gelehnt saß er da und sah hinab ins Kaisertal.

Er saß da und schaute und ließ seine Gedanken dahintreiben. Ein Ritual. Immer, wenn er sich an einen alpinen Alleingang machte, schaffte er es dadurch, zu innerer Ruhe und zu so etwas wie Gelassenheit zu gelangen. An diesem Tag aber fiel es ihm schwer, die unvermeidliche Aufregung vor der Solo-Tour in den Griff zu bekommen, seine Nerven zu beruhigen, seinen Atem in ein Gleichmaß zu bringen. So vieles ging ihm durch den Kopf, und es waren Gedanken, die beileibe nicht nur mit der jähen Felswand über ihm zu tun hatten.

Er dachte an den Hauptgrund dafür, dass er sich am Fuß der sogenannten Plattendirettissima befand: den tödlichen Absturz eines guten Bekannten vor einigen Monaten. Ein tragischer Bergunfall? Sehr wahrscheinlich. Und doch waren Zweifel aufgekommen und er war zu Rate gezogen worden.
Wochenlang hatte er sich dagegen gewehrt, dem anderen Kletterer der Seilschaft, den er ebenfalls kannte und der unverletzt überlebt hatte, eine Tötungsabsicht zu unterstellen.

Er dachte auch an die Wanderung, die ihn gestern von der Kaindlhütte nach Hinterbärenbad geführt hatte. Ein völlig einsamer Steig, den er nie zuvor begangen hatte.

Mischwald, durchzogen von baumlosen Schrofenrinnen, wo er die Ausblicke auf die umstehenden Berge genießen konnte. Ringsum Laub, das sich gelb und rötlich zu verfärben begonnen hatte und das unwidersprechlicher Beleg dafür war, dass sich diese Klettersaison dem Ende zuneigte. Zumindest in den höheren Lagen würde vielleicht schon in ein paar Wochen der Winter mit einem ersten ergiebigen Schneefall Einzug halten – und dann die berühmten Kletterwände hier im Kaisergebirge für lange Monate in eine Art Dornröschenschlaf versetzen, unzugänglich, unerreichbar. Und das empfand er als schade, sehr schade. Umso mehr wollte er diesen Tag genießen, diesen und auch den nächsten, die Luft einsaugen, die Stille und die Einsamkeit nehmen wie ein wohltuendes Bad und das besondere Licht des Herbstes in seinem Gedächtnis speichern, damit er noch lange, vor allem an grauen, tristen Novembertagen, davon zehren konnte.

Das Grau aber war bereits in ihm.

Schon bei der Wanderung von der Kaindlhütte nach Hinterbärenbad war es ihm nicht gelungen, das Gehen und die Natur wirklich zu genießen. Immer hatten sich die Erinnerungen an Peter Henning, den tödlich verunglückten Kletterer, in den Vordergrund gedrängt. Und, mehr noch, die Erinnerung an die Begegnung mit Peters Eltern, die er aufgesucht hatte und deren Leid und deren verzweifelte Wut für ihn so schwer erträglich gewesen waren.

***

Eine Reihenhaussiedlung in Münchens Stadtteil Obermenzing. Alles ordentlich, mit gepflegten Vorgärtchen, Schöner-Wohnen-Nippes auf den zu den Eingangstüren hinaufführenden Stufen, Orchideen an den Fenstern, von irgendwoher Rasenmähergeräusche und der Duft scharf angeschwitzter Zwiebeln. Diese beinahe aufdringliche Gediegenheit erinnerte ihn beim Eintreffen an den Anfang von Hermann Hesses Roman „Steppenwolf“, in dem ein Mann namens Harry Haller ein möbliertes Zimmer sucht und sichtlich erstaunt ist über die wohlgeordnete kleine Welt, die er da vorfindet und die ihm nicht allzu vertraut zu sein scheint.

Tobs hatte das Buch als Schullektüre gelesen, vor vielen Jahren, und es hatte ihn beeindruckt, beeindruckt bis in die heutige Zeit.

„Kommen Sie herein, Tobias“, sagte der Mann, der ihm die Tür öffnete, kaum dass gerade mal fünf Sekunden vergangen waren, seit Thanner den Klingelknopf betätigt hatte. Herr Henning, Peter Hennings Vater, schien ungeduldig gewartet zu haben.

Das Haus war erfüllt vom Schmerz. Es herrschte eine bedrückende Stille ... ja, eine Totenstille. Nur eine Uhr tickte irgendwo und aus der Küche schien das scharrende Geräusch des Kühlschrank-Kompressors zu kommen. Keine Musik, kein Radio, kein Fernsehen, nichts.

Wo er hinsah, hingen oder standen Bilder von Peter. Sie waren derart präsent, dass sie alles andere im aufgeräumten Flur und dem sich daran anschließenden Wohnzimmer in den Hintergrund zu drängen schienen. Sogar die Frau, Peters Mutter, war beinahe unsichtbar. Oder durchsichtig. Sie saß auf der Couch, vor sich zwei Päckchen Papiertücher, ein zerknülltes hielt sie in den Händen, und sie knetete es unablässig.

„Meine Frau“, sagte der alte Henning. „Ich weiß nicht, ob Sie sie kennen.“

Tobs kannte sie nicht. Er kannte ja auch Peters Vater nicht. Aber dass der ihn beim Vornamen genannt hatte, zeigte ihm, dass Peter seinen Eltern von ihm und wahrscheinlich von den gemeinsamen Bergerlebnissen berichtet hatte. Was er auch sogleich bestätigt bekam.

„Peter hat oft von Ihnen erzählt.“

„Oft nicht“, sagte die Frau, und es klang, als ob sie einen starken Schnupfen hätte. „Er war ja nicht oft daheim, nicht oft bei uns.“

„Aber wenn er da war“, korrigierte ihr Mann sie energisch, „dann hat er oft von Ihnen erzählt.“ Und nach einer kurzen Pause, nach zermürbenden Momenten des Schweigens fügte er hinzu: „Auch ein Grund, warum wir uns an Sie gewandt haben.“

„Sie haben in Ihrem Brief starke Anschuldigungen ausgesprochen“, sagte Tobs. Er holte ein Kuvert aus der Jackentasche und nahm besagten Brief heraus. „Sie schreiben, dass Sie nicht an einen Unfall glauben, sondern dass Sie Peters Seilpartner verdächtigen, Ihren Sohn umgebracht zu haben. Wörtlich schreiben Sie ...“

Frau Henning schniefte laut. Ihre Stimme klang noch verschnupfter als zuvor. „Bitte“, sagte sie, „bitte ersparen Sie uns das. Wir wissen, was wir Ihnen geschrieben haben.“

Ihr Mann nickte.

„Setzen Sie sich doch“, sagte er. „Setzen Sie sich doch erst einmal hin.“

Tobs setzte sich in einen der Sessel, allerdings rückte er dabei ganz nach vorn, so als wäre er auf dem Sprung. Und das war er in der Tat auch: Er wollte weg von hier, so schnell es ging wieder weg.

„Sie haben diesen Verdacht doch gewiss auch der Polizei mitgeteilt“, sagte er. „Ich kann mir nicht vorstellen ...“

„Die Polizei!“ Henning sagte das nicht, er schrie es beinahe aus sich heraus. Wut und Verzweiflung lagen dabei in seiner Stimme. „Die Polizei unternimmt nichts. Sie glaubt der Version von diesem ... von diesem Dreckskerl. Sieht keinen Anlass, seinen Bericht anzuzweifeln. Wir haben x Anläufe unternommen. Schon bevor wir uns an Sie gewandt haben. Und danach auch noch.“

Tobs fühlte sich wie ein Fuchs in der Falle. Er hatte Peter Henning gekannt, gut gekannt, und er kannte Phil Reichhardt. Mit beiden war er geklettert, mit beiden hatte er freudvolle Stunden erlebt. Peter war beinahe so etwas wie ein Freund geworden. Phil war vor allem ein guter Seilpartner, darüber hinaus waren sie sich aber nicht allzu nahe gekommen. Jetzt hockte er mit seinem halben Hinterteil auf dem Sessel und wäre am liebsten einfach aus dem Haus gerannt. Natürlich, auch ihm war es wichtig zu erfahren, wie sich die Tragödie an der Kleinen Halt wirklich zugetragen hatte. Natürlich war er bereit, die Wahrheit zu überprüfen – und für ihn gab es nicht den geringsten Zweifel daran, dass in Wahrheit ein tragischer Unfall passiert war –, um mit dieser Bestätigung den Eltern von Peter zu einem wie auch immer gearteten Frieden zu verhelfen. Er war nicht in der Lage, sich einen Mord vorzustellen, eine derart grausame Tat inmitten der so grandiosen Berglandschaft – und Phil Reichhardt als Mörder.

Warum? Warum hätte Phil so etwas tun sollen?

Die Frage schien ihm auf die Stirn geschrieben, denn er brauchte sie nicht auszusprechen. Henning kam ihm mit der Antwort zuvor.

„Wir saugen uns diese Vermutung nicht aus den Fingern. Das dürfen Sie mir glauben“, sagte Henning.

Seine Frau schniefte und knetete das Taschentuch in ihren Fingern.

„Es geht um diese Frau“, sagte Henning. „Julia. Wir haben sie immer akzeptiert.“ Er sah zu seiner Gattin, der Tränen über die Wangen liefen. „Wir haben sie akzeptiert, weil unser Sohn mit ihr glücklich war. Aber ...“

Er wischte sich selbst über die Augen.

„Aber meine Frau und ich ... wir haben sie nie gemocht ... nie. Wir waren uns immer sicher, dass sie nicht die Richtige für ihn war. Schlimmer noch: dass sie nicht nur nicht die Richtige war, sondern dass sie ihn unglücklich machen würde. Ja, das war unsere Meinung.“

„Gesagt haben wir ihm das aber nie“, flüsterte Hennings Frau mehr, als dass sie es deutlich aussprach. Doch Tobs verstand. Die Alten waren eifersüchtig gewesen auf Peters Freundin, und jetzt schoben sie ihr also auch noch die Verantwortung zu – für einen tragischen Bergunfall. Oder für einen Mord.

Die Tränen, die Peters Mutter übers Gesicht liefen, rührten ihn zutiefst. Das Leid stand im Haus wie restlos verbrauchte Luft. Allein das war schon unerträglich. Doch mehr noch als dieses Elend erschütterte ihn dieser Hass auf Peters Freundin. Das Leid der Hennings war ihm nur zu verständlich. Auch dass sie so verzweifelt waren, konnte er gut nachvollziehen. Doch dieser Hass … dieser jeder Grundlage entbehrende Hass stärkte noch den Fluchtreflex in ihm.

Ich will weg, dachte er. Nur weg. Nichts mit dieser ganzen verfluchten Geschichte zu tun haben.

„Ich möchte jetzt lieber gehen“, sagte Tobs. Er stand auf, wollte etwas unbeholfen einen ersten Schritt tun, doch Henning drückte ihn an den Schultern sanft, aber entschieden in den Sessel zurück.

„Sie müssen sich anhören, was wir Ihnen zu berichten haben“, sagte er. „Ich bitte Sie, Tobias: Hören Sie uns an.“

***

Daran dachte er am Einstieg der Plattendirettissima. Es waren die falschen Gedanken vor einer solchen Tour. Das war ihm völlig klar.

Ich sollte wie ein islamistischer Scheiß-Terrorist an zweiundsiebzig Jungfrauen im Paradies denken, dachte er. Nicht an die alten Hennings. Nicht an das, was sie mir erzählt haben und was sich in mich reingebohrt hat wie ein Splitter, der jetzt zu eitern beginnt. Einfach an irgendetwas Schönes.

Tobs stand auf, schüttelte seine Beine, machte Dehnübungen mit den Armen, presste die Finger beider Hände gegeneinander, bis die Gelenke knackten, und zog den Helmgurt zu. Er kannte die Route, wusste, dass sie leicht begann.

Das meiste ist leicht, dachte er.

Es tat ihm gut, an die vielen leichten Seillängen zu denken, an Genussklettereien im dritten und vierten Schwierigkeitsgrad. Doch das Wissen um die schwierigen Passagen, Seillängen im fünften und sechsten Grad, schob sich dazwischen, verfinsterte seinen Himmel wie plötzlich aufziehende Wolken.

Drei überhängende Dachriegel waren zu überwinden, mal in brüchigem und kleinsplittrigem Fels, mal in einem Schulterriss. Insbesondere in jenem Abschnitt, wo das Gestein nicht zuverlässig war, würde er gute Nerven brauchen.

Hab ich das?, fragte er sich. Habe ich heute gute Nerven?

Tobs kletterte los. Es ist leicht, dachte er. Wenn ich das Nervenflattern kriege, kann ich immer noch umkehren. Und ich könnte morgen ...

Gendi Koch fiel ihm ein. Er hatte ihn in Hinterbärenbad getroffen. Eigentlich hieß er Richard Koch, aber die Kletterszene kannte ihn nur als Gendi. Es gab verschiedene Vermutungen, was seinen Spitznamen betraf. Er selbst äußerte sich nicht dazu. So konnte sich diese Version durchsetzen: dass der Name Gendi von Gandhi kommt, dem indischen Sozialrevolutionär, englisch ausgesprochen. Es konnte etwas dran sein. Schließlich hatte Gendi etwas von einem Asketen. Man konnte ihn meditieren sehen, er aß, so hieß es, ausschließlich vegetarisch und lebte spartanisch. Gendi war ein exzellenter Kletterer, dünn, sehnig, kraftvoll, und seine Bewegungen am Fels glichen weit mehr einem Tanz oder einem Schweben als einem vom Adrenalin befeuerten Klettern.

„Was hast du vor?“, hatte Tobs ihn gefragt. „Ich möchte zur Kleinen Halt. Wir könnten zusammen ...“

Gendi hatte den Kopf geschüttelt. „Geht nicht. Übermorgen ginge es. Aber morgen bekomme ich einen Gast, dem ich eine Tour aufs Totenkirchl versprochen habe.“

Tobs kletterte ruhig und in gleichmäßigem Tempo. Der Fels fühlte sich angenehm kühl an. Das Klettern würde seine düsteren Gedanken verscheuchen, hoffte er. Seine Sinne ganz auf Tritte und Griffe ausrichten, auf die paar Meter grauen Fels in seinem Gesichtsfeld. Pure Konzentration, alles andere abstreifen, verdrängen. Doch verdrängen, was heißt das schon? Zwischenlagern? Eine Bombe verstecken, die gnadenlos weitertickt?

Der Himmel war fast makellos blau, nur ein paar Kondensstreifen von Flugzeugen zogen weiße Bahnen ins Azur. Tief unter ihm leuchtete der Laubwald gelb und rostrot. Es war schön. Einfach nur schön.

Kein Tag, um zu sterben.

 

Über den Autor*Innen

Jörg Bornmann

Als ich im April 2006 mit Wanderfreak an den Start ging, dachte noch keiner an Blogs. Viele schüttelten nur ungläubig den Kopf, als ich Ihnen von meinem Traum erzählte ein reines Online-Wandermagazin auf den Markt zu bringen, welches eine hohe journalistische Qualität aufweisen kann, eine Qualität, die man bisher nur im Printbereich kannte. Mir war dabei bewusst, dass ich Reisejournalisten und Spezialisten finden musste, die an meine Idee glaubten und ich fand sie.